− Es gilt das gesprochene Wort −
„Hitze und jeden Tag noch mehr Hitze von der glühenden Sonne. Heute Nachmittag hatten wir 38 Grad. Es ist zu heiß, um irgendetwas zu unternehmen“, schreibt die zehnjährige Nusia im August 1939 in ihr Tagebuch. Sie verbringt den Sommer bei ihren Großeltern in Borowa Gora bei Warschau.
Jahrzehnte später wird sie sagen: „Wir taten all die wundervollen Dinge, die Kinder in diesem Alter tun.“ Doch der Sommer 1939 sei „ein Sommer voller Angst“ gewesen. Es ist Nusias letzter Kindheitssommer.
Wie viele Kindheiten sind in diesen Augusttagen 1939 in Polen, in Europa unwiderruflich zu Ende gegangenen?
Es ist bedrückend, an den 1. September 1939 zu denken. Das Unbehagen gehört zu diesem Datum, solange ich denken kann. Und soweit ich zurückdenken kann, war es nie größer als in diesem Jahr. All die Jahre, die wir an den Kriegsbeginn 1939 erinnert haben, taten wir es in dem Bewusstsein, an etwas Furchtbares zu rühren. Aber wir taten es auch in dem Selbstverständnis, dass sich ein Krieg wie dieser niemals mehr wiederholen sollte.
Der Schrecken, den Deutschland in den Jahren von 1939 bis 1945 über Polen und ganz Europa gebracht hat, das Elend des Krieges und der Besatzung, die Infamie des Holocausts – all das war so grausam und zerstörerisch, dass eine Wiederholung unvorstellbar schien. Wer würde sich, ohne Not, in die Gefahr begeben einen vergleichbar zerstörerischen Konflikt heraufzubeschwören?
Doch vielleicht sind wir – und ich meine damit Deutschland und das westliche Europa, die sich nach dem Krieg zu einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben – vielleicht ist dieses Europa einer Selbsttäuschung erlegen.
Denn immer häufiger habe ich den Eindruck, dass dieser letzte Krieg gerade dort, wo er am schlimmsten gewütet hat, so tiefe Spuren hinterlassen hat, dass er nie wirklich zu Ende gegangen ist. Und vielleicht hat gerade die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die Schuld und Scham schnell verdrängen und vergessen wollte, diesen fortdauernden Schmerz von sich ferngehalten.
In einem Interview sagte die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja vor etwas mehr als einem Jahr über ihre Kindheit und Jugend im sowjetischen Kiew: „Wir waren vom Krieg durchtränkt. (…) Unser Krieg war überhaupt nicht zu Ende, weil er so viel Tod und Zerstörung erzeugt hatte, dass die Folgen, das Empfinden sich bis in meine Kindheit erstreckten.“ Der Krieg war die „Primärfarbe aller Erfahrungen“.
Sie erzählt auch von der Scham, die ihr Vater, ein sowjetischer Jude, Polen gegenüber empfunden habe, als habe er „persönlich den Hitler-Stalin-Pakt geschlossen“, als wäre er selbst 1939 mit der Roten Armee in Ostpolen einmarschiert. Prag 1968 sei für ihre Eltern eine Fortsetzung dieser Tragödie gewesen. Teilen der sowjetischen Intelligenz sei durchaus bewusst gewesen, welche Bedeutung die polnische Formel „Wasza wolnosc jest nasza wolnosc, a nasza wolnosc jest wasza“1 für sie hatte. („Eure Freiheit ist unsere Freiheit und unsere Freiheit ist eure“)
Unlängst ist ein Buch zweier Osteuropa-Historikerinnen, Franziska Davies und Katja Makhotina, erschienen. Es trägt den Titel „Offene Wunden Europas“ und beschreibt eine Reise zu den Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs: Die Erzählung folgt der Spur der Verwüstung, die Deutsche durch Osteuropa zogen: von Warschau, Belzec, Majdanek, Lwiw, Wilnius, Minsk, Malyj Trostenez, Kiew, Babyn Jar, Chatyn, Pirciupis, Korjukiwka in der Ukraine bis in belagerte Leningrad und auf das Schlachtfeld Stalingrads.
Wie hängt das, was derzeit geschieht, mit dieser Geschichte zusammen, fragen die beiden Autorinnen in ihrem Vorwort. Was hat die gewaltvolle Geschichte des 20.Jahrhunderts mit dem Europa unserer Tage zu tun? Ihre Antwort ist deutlich: Der Krieg gegen die Ukraine wird nicht nur mit Panzern und Haubitzen geführt. Der russische Angriff erfolgte mit dem stärksten Kaliber der geschichtspolitischen Waffenschmiede Wladimir Putins: dem antifaschistischen Erbe der Sowjetunion. Der Krieg gegen den Nachbarn diene der Denazifizierung des Landes, behauptet Putin, und verhindere einen Genozid an den Ostukrainern.
Wir wissen: Das ist eine Lüge und eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus.
Wenn heute weite Teile der deutschen Politik konstatieren müssen, sie hätten sich in dem russischen Präsidenten getäuscht, dann macht das deutlich, dass es uns an Wissen fehlte, und dass dieser Mangel an Wissen, einen Mangel Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber den Befindlichkeiten unserer osteuropäischen Nachbarn nach sich zog. Polen hat Deutschland das mit Recht vorgehalten.
Wir schulden Polen viel. Wir schulden Ihrem Land die aufrichtige Anerkennung des erlittenen Leids unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Und wir schulden Ihrem Land Dank für die Haltung, die es in der Lage des aktuellen Krieges einnimmt. Wir stehen in der Verantwortung, Polen bei der Aufnahme so vieler ukrainischer Kriegsflüchtlinge unsere Hilfe und Unterstützung anzubieten.
Deutschland schuldet Polen aber vor allem, dass wir die Lektionen der Vergangenheit, die der eigenen und die der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte, nicht länger verdrängen, sondern zurückholen in das Bewusstsein unserer Gesellschaft. Dazu soll das geplante Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa dienen. Dafür brauchen wir aber auch einen Ort, an dem wir der polnischen Opfer dieses Verbrechens gedenken können und an dem wir mehr über die mehr als tausendjährige einzigartige Verflechtungsgeschichte unserer beiden Länder lernen und erfahren können. Mein Haus hat die Verantwortung für diese Projekte übernommen und ich will und werde mich für ihre Realisierung einsetzen.
„Der Sommer 1939 war der letzte Sommer in Freiheit“, sagt Nusia, die sich 1944 als Fünfzehnjährige dem Warschauer Aufstand anschloss. Mehr als 150.000 Frauen und Männer starben in diesem 63 Tage währenden Kampf um die Stadt. Was von Warschau übriggeblieben war, zerstörten die nationalsozialistischen Besatzer durch gezielte Sprengungen – eines von unzähligen Kriegsverbrechen, die Deutsche in Polen begangen haben. Die letzte Radiobotschaft der Aufständischen lautete: „Eine so mutige Nation ist unsterblich.“
1„Eure Freiheit ist unsere Freiheit und unsere Freiheit ist eure“ ist eine Parole des polnischen Befreiungskampfes von 1848.