- Gehalten am:
- 8. November 2023
- Es gilt das gesprochene Wort. -
Gustav Behrendt, der verträumte jüdische Protagonist in Franz Hessels erstem Roman Der Kramladen des Glücks, hat auf der Beerdigung seiner Großmutter in München eine entsetzliche Vision. „Plötzlich scholl von draußen“, schreibt Hessel, „ungedämpft Militärmusik und Soldatenschritt. Da kam wohl ein Regiment oder auch nur eine Kompanie in die Stadt zurück. Aber dem Gustav war es, als lärmten tausend und aber tausend Feinde an den Toren seines Volkes. Und die Mauern rückten immer enger zusammen um die Geduckten, Geängstigten. Bald werden ihre Äxte unsere Tore zerbrechen, bald werden rote Würgearme hereinlangen, phantasierte der Knabe“.
Das ist in dem bereits 1913 erschienen Roman eine ebenso fürchterliche wie präzise Vision der späteren Geschichte der Shoah, des einzigartigen Menschheitsverbrechen, begangen vom nationalsozialistischen Deutschland.
Seit 2010 wird der Franz-Hessel-Preis vergeben. Er ist ein renommierter deutsch-französischer Literaturpreis, der längst geglückte Versuch eines Brückenschlags zwischen zwei heute so eng mit einander verbundenen Kulturräumen. Und ich danke meiner geschätzten Kollegin Rima und ihrem ganzen Team, den Teams der Villa Gilet, der Stiftung Genshagen wie auch der Jury sehr dafür, dass wir diesen Preis hier heute verleihen können. Diese Preisvergabe ist in diesen Zeiten von noch größerer Bedeutung als in früheren Jahren.
Denn morgen, am 9. November, jährt sich die furchtbare Reichspogromnacht zum 85. Mal, die Nacht in der vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit über tausend Synagogen und Beträume attackiert und angezündet wurden, in der jüdische Geschäfte verwüstet und hunderte Jüdinnen und Juden umgebracht wurden. Daran werden Rima und ich heute Abend im Mémorial de la Shoah gemeinsam erinnern und gedenken.
Kurz vor dieser Reichspogromnacht war Franz Hessel nach Paris geflohen, hatte hier an der Seine zunächst Zuflucht gefunden. Er, der so erfolgreiche Schriftsteller, Übersetzer und Journalist, der leidenschaftliche Flaneur im Berlin der 20er Jahre, hatte dort vor 90 Jahren, am 10. Mai 1933, miterleben müssen, wie mitten in Berlin auch seine Bücher verbrannt wurden – unter dem Jubel von Tausenden.
Die Vertreibung ins Exil, die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden in ganz Europa durch das nationalsozialistische Deutschland, kostete auch Franz Hessel am Ende das Leben. Wie so vielen anderen jüdischen und auch oppositionellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, darunter Joseph Roth, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Stefan Zweig, um nur einige wenige zu nennen.
Ausgerechnet jetzt, vor dem Gedenken an den 9. November, sind wir in Gedanken bei den Opfern, den Geiseln und ihren Familien der bestialischen Terrorattacken vom 7. Oktober. Ausgerechnet jetzt gibt es einen Ausbruch und ein Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland, in Frankreich, in Europa.
Dagegen müssen wir gemeinsam vorgehen. Es ist nicht akzeptabel, dass Jüdinnen und Juden Angst haben, mit einem Davidstern oder einer Kippa in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein, ihre Kinder in die Schule zu schicken, in einem Taxi ihren Namen zu nennen. Es ist entsetzlich, wenn eine junge jüdische Frau zu Hause angegriffen und schwer verletzt wird und der Täter ein Hakenkreuz auf ihrer Tür hinterlässt, wie in Lyon geschehen, oder Brandbomben auf Synagogen geworfen und Häuser mit einem Davidstern markiert werden, wie in Berlin geschehen.
Gerade jetzt gilt es, gemeinsam jüdisches Leben in Deutschland, in Frankreich und Europa zu schützen. Angriffe auf jüdisches Leben sind Angriffe auf die Grundprinzipien der Demokratie. Diese unsere Demokratien zu verteidigen und zu stärken, das ist die Aufgabe unserer Regierungen und eines wehrhaften Rechtsstaates. Aber das geht ebenso uns alle an, da sind wir alle tagtäglich gefordert. Dazu verpflichtet uns die Erinnerung an Franz Hessel und so viele andere.
Und wenn ich das sage, denke ich natürlich auch an die Zivilbevölkerung im Gazastreifen und hoffe sehnlichst, dass die humanitäre Hilfe sie erreicht und ihr Leben, mit dem nicht zuletzt die Hamas ein zynisches Spiel betreibt, geachtet wird.
Nicht nur im Nahen Osten tobt ein furchtbarer Krieg. Jeden Tag wehrt sich die Ukraine gegen den verbrecherischen Angriffskrieg von Putins Russland. Gegen einen autoritären Herrscher Putin, der klar sagt, dass er die Ukraine, ihre Identität und Kultur vernichten will.
Sie werden vielleicht fragen, was kann, was will hier die Literatur? Sie kann keinen Krieg beenden, keinen Mord wiederrufen, aber sie kann Einspruch einlegen, Lebenszeichen setzen, im Namen der Humanität. In Zeiten von Krieg und Terror ist die Literatur für viele Menschen, auch für mich, ein Zeichen der Hoffnung – und die stirbt bekanntlich zuletzt.
Am 1. Mai des vergangenen Jahres notierte der großartige ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow in sein „Tagebuch einer Invasion“: „Ohne Wasser, ohne Luft und ohne Kultur kann der Mensch nicht leben. Kultur gibt einen Sinn im Leben. Und deshalb ist sie in Zeiten von Katastrophe und Kriegen besonders wichtig. Kultur wird zu etwas, dass man nicht so einfach aufgeben kann. Sie zeigt dem Menschen auf, wer er oder sie ist und wohin er oder sie gehört.“
Kurkow macht sehr deutlich: Gerade in diesen Zeiten brauchen wir die Kultur. Gerade in diesen Zeiten brauchen wir die Macht des Buches und die Freiheit des Wortes. Und umso mehr Bücher, die uns verbinden können, Frankreich und Deutschland, die damit auch das gemeinsame Europa voranbringen können.
Genau dafür steht der Franz-Hessel-Preis und die Bücher, die mit ihm ausgezeichnet werden.
Deshalb freue ich mich besonders über die Preisträgerin Maryline Desbiolles und den Preisträger Fridolin Schley. Ihre beide Bücher stehen für das wichtige Erinnern für die Zukunft. Sie, liebe Frau Desbiolles, beschäftigen sich mit Rassismus, mit Ausgrenzung und dem Erbe sowie der fehlenden Aufarbeitung des französischen Kolonialismus in Algerien. Sie, lieber Herr Schley, stellen den hochrangigen Diener des NS-Regimes, Ernst von Weizsäcker, der später als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, und seinen Sohn, den späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der erstmals von dem 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung gesprochen hat, in das Zentrum ihres Romans. Dabei beleuchten Sie Fragen nach Schuld und Verantwortung, nach Gerechtigkeit und Lehren aus der Geschichte.
Dieses Erinnern für die Zukunft in unterschiedlicher Form brauchen wir im gemeinsamen Europa. Das sind wichtige Beiträge gegen das Wiedererstarkten von Antisemitismus, Rassismus, Islamophobie und Menschenfeindlichkeit in jeder Form.
Gegen dieses Wiedererstarken entschieden einzutreten, das wollen Rima und ich gemeinsam tun, dafür brauchen wir eine starke deutsch-französische Zusammenarbeit.
Enden möchte ich mit einem Zitat aus der Rede, die der so beeindruckende Schriftsteller Salman Rushdie in Frankfurt bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor knapp drei Wochen gehalten hat:
"Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann."
Herzlichen Glückwunsch Ihnen beiden zum Franz-Hessel-Preis.